Durch ein freies Kartenkontingent ergab es sich, dass ich gestern Musikgeschichte am lebenden Objekt studieren konnte. Die prophetischen Gegenwartsphilosophen („If you live by the sword, you die by the sword“, „Wrong is right“) von „Accept“ gaben eine Audienz in Leipzig. Schon alleine der Bandname ist eine einzige Hommage an Seneca.
Was für ein herrlicher Spaß und ein weiterer Haken an der Bucketlist.
Montag konnte ich einen weiteren Punkt auf meiner Bucketlist abhaken. Muss man tun, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt. Nun war das mit den Gelegenheiten zuletzt etwas schwierig, und auch jetzt ging es nicht ohne Kompromisse. „The Cure“ stehen schon seit immer auf meiner „Will ich mal live sehen“-Liste und nun suchten sie sich ausgerechnet den Oktober 2022 für ein Konzert in Leipzig aus. Ich musste also rechnen: Sehr großer Wunsch, die Band mal live zu sehen plus Ungewissheit, ob und wann sie das nächste Mal auf Tour gehen minus steigende Coronafallzahlen minus Bereitschaft des durchschnittlichen sächsischen Konzertbesuchers, eine Maske zu tragen ergibt … keine Ahnung, auf jeden Fall ein unklares Ergebnis. Ich hatte wirklich keine Lust, nochmal (so) Corona zu bekommen, andererseits ist das aktuelle Omikron nicht Delta und keiner weiß mehr, wo das evidenzbasierte Handeln überhaupt abgeblieben ist. Also lautete mein schwammiges Ergebnis: Kauf dir einen Sitzplatz in der obersten Reihe und trag die ganze Zeit Maske. Und das war der Prolog, wie ich zu meinem ersten „The Cure“-Konzert kam, gleichzeitig dem ersten Konzert in geschlossenen Räumen seit 2019.
Entsprechend einem weiteren Punkt auf meiner Bucketlist, der grob „gib dir Mühe in dieser Klimaangelegenheit, bis der Masterplan für alle da ist“ heißt, fuhr ich mit dem Zug zum Konzert. Ich fand das sogar recht erschwinglich. Einzelstrecke Abelio 8,60€ von Weißenfels nach Leipzig-Leutzsch, dann mit der Straßenbahn zum Sportforum. Dank MDV-Verkehrsverbund „All Inclusive“ und in knapp 50 Minuten gemacht. So weit, so schön. Auf dem Weißenfelser Bahnhof erwartete mich aber erstmal ein mit Menschentrauben gepflasterten Bahnsteig. Es stapelten sich Schüler, Berufspendler, Punker, Fahrradtouristen und andere Gestrandete aufgrund von zwischenzeitlich drei ausgefallenen Zügen, wie ich in der Folgezeit durch die Lautsprecherdurchsagen erfuhr. Polizeieinsatz wegen Schaden im Gleisbett. Interessant. Allerdings stand auch ein Zug im Gleis, schon mehr als eine halbe Stunde vor Fahrtantritt und zufällig meiner, was ich aber erstmal nicht verstand. Blieb trotzdem die bange Frage, ob ich denn in der Nacht wieder zurückkommen würde, schließlich war ich sehr wahrscheinlich gezwungen, den letztmöglichen Zug zu nehmen, bevor im ÖPNV die Nacht hereinbrach. Ist das alles aufregend..
Dann war ich im Zug. Ansich eine schöne Art zu reisen. Lustig auch, was der Blick aus dem Fenster mit einem macht, wenn man gleichzeitig elektronisch unterstützten Pagan-Folk von „Valravn“ auf den Ohren hat. So ging die Fahrt dahin. Leipzig-Leutzsch unterscheidet sich architektonisch nicht groß von Weißenfels und die Straßenbahnstation war leicht zu finden. Die fuhr dann immer weiter in die Stadt, vorbei an der bunten Großstadtmischung von halbseiden beleuchteten Imbissen, ambitioniert-nachhaltigem Fachhandel, Handyläden und Läden, bei denen es kaum möglich ist, dass sie jemand nutzt. Ankunft am Sportforum. Hier kannte ich mich wieder aus.
Vor Ort holte ich mir noch schnell Geld, um mir eine Cola und irgendwas zu Essen zu holen. Wurde langsam knapp bis 19:30 Uhr. Nun mit Geld ausgestattet, traf ich auf eine echt saure Bretterbudenimbisscrew. Man war dort schlecht gelaunt wegen der vielen Kundschaft und der zur Neige gehenden Ware und je mehr ich wartete, umso mehr wünschte ich mir, ich hätte in dem schicken vegetarisch-asiatischen Imbiss einkehren können, an dem ich gerade vorbeigelaufen war. Kaufte dann aber doch vor Ort eine Portion Süßkartoffelpommes und eine Cola. Die Zeit ran…und letztlich hatte das Personal ja auch nur das von mir so geschätzte Leipzigflair. Immer herzlich, direkt und raus mit den Gefühlen.
Sofort hinter dem Einlass bekam ich in der Quarterback-Arena zu Leipzig davon gleich noch eine Ladung. »Nur jut, dass du ne Maske offhast, meinor!«, gefolgt von einem Schlag auf die Schulter. War tatsächlich (und wie erwartet) mit circa zwei Dutzend anderen im Saal der einzige mit. Egal. »Droff jeschissn«, wie der Sachse sagt. Kulturelle Unterschiede und unterschiedlicher Informationsstand sind normal. Man hat nur auf sein eigenes Handeln wirklich Einfluss. Menschen denken, was sie glauben. Das ist nicht unbedingt vernünftig.
Vernünftig war es auch nicht, sich einfach auf einen schöneren Platz zu setzen, als den eigenen, in der Hoffnung, das den schon keiner brauchen wird. Brachte mich nämlich in eine Diskussion mit einem akuraten Herren, die tatsächlich mit den Worten »He, das ist aber mein Platz!« begann und mit den Worten »Ich möchte, dass sie sofort aufstehen!« endete.
Nun denn. Zum Konzert. Während all dies geschah spielte die Vorband „The Twilight Sad“ aus Glasgow, was man in die Schubladen „Shoegaze“ und „Post-Rock“ sortiert hat und auch stark nach den düsteren 80ern klang. Sehr ambitioniert im Auftreten, musikalisch fehlte mir was, das im Gedächtnis blieb, aber für den Einstieg nicht übel. Vorband sein ist sowieso nicht leicht, andererseits habe ich schon so manche Vorband gesehen, die mir besser gefiel, als der Hauptakt. Das war heute nicht der Fall.
Viel zu gut waren Robert Smith und seine Band „The Cure“ an diesem Abend spielerisch drauf, viel zu schön war der Ton in dieser Halle abgemischt, viel zu großartig die Tatsache, dass im Hauptset weitgehend auf die Charthits verzichtet wurde, viel zu angenehm der Fakt, drei Zugaben zu bekommen und mit der dritten Zugabe all diejenigen versöhnt zu wissen, die wegen „Friday I’m in love“ und Co. gekommen waren. Mir bleibt ein echt schöner Abend mit perfekt inszenierten sphärischen Klangteppichen in Erinnerung. Würde ich jederzeit wieder machen. Stand nicht umsonst in meiner Bucketlist. Definitiv keine Band, die mit Leistung geizt und live eine, die fast wie vom Band klingt. (Wann kommt eigentlich endlich das neue Album?) Ich finde es auch immer gut, wenn Musiker wegen der Musik auf der Bühne stehen und die Frontmänner und -frauen sich lange Erzählungen zwischen den Liedern sparen. Die wenigen Sachen, die Mr. Smith auf der Bühne sagte, habe ich nicht verstanden, weil sie in der ihm eigenen Art fahrig hingenudelt wurden (… und mein Englisch vermutlich zu schlecht ist für Muttersprachler mit Dialekt). So weit, so schön.
Als die besagte dritte Zugabe lief, hatte ich mich schon auf die Treppe am Ausgang des Ranges gesetzt, weil ich mir langsam Sorgen um die nun folgende Straßenbahn/Zugverbindungssituation machte. Dort durfte ich aber nicht sitzen, sagte die nette Ordnungsfrau mit ihrem russischen Akzent und so stand ich noch kurz rum und ging, als „Boys don’t Cry“ (glaube ich) anhub.
Ich hatte das Ziel, eine Straßenbahn früher zu bekommen, als alle anderen und dann halt in Leipzig-Leutzsch auf den Zug zu warten. Die 6 Minuten Umstiegzeit, die mir die DB-App für die planmäßige Verbindung ausspuckte, waren mir eindeutig zu knapp und unsicher. Das Problem an der Sache erkannte ich jedoch erst, als ich an der Straßenbahnhaltestelle eintraf. Die einzige Straßenbahn zum Bahnhof Leutzsch fuhr tatsächlich erst 0:09 Uhr .. vorher gab es keine. Das führte nun dazu, dass ich in der Haltestelle warten musste. Und das führte dazu, dass ein sehr redebedürftiger, irgendwie nicht unssympathischer aber zugleich zugedröhnter Mitzwanziger ständig mit mir das Gespräch suchte. Warum immer ich, wenn auch noch 8 andere Leute an der Haltestelle stehen, denkt man sich da. In der Folgezeit klärten wir unter anderem, dass ich eine E-Zigarette rauchte und keine Shisha, wir beide auf alles verzichten könnten, nur nicht auf Nikotin, er gratulierte mir, dass ich erfolgreich von der Zigarette weg bin und den Rest sicher auch noch schaffe, bevor es zu folgendem schönen Wortwechsel kam: Er: »Was hast du eigentlich hier gemacht?« Ich: »Ich war in der Arena bei „The Cure“« Er: »Was ist das, „The Cure“?« Ich: »Das ist so eine Band aus den 80ern. Die machen eher so düstere Wave- und Rockmusik.« Er: »Kenne ich nicht.« Ich: »Du kennst nicht „The Cure“?« Er: »Ich bin eigentlich nicht von hier. Ich komme aus Hamburg.« Er reicht mir sein Handy: »Kannst du mal anmachen, dass ich das checke« Ich versuche sein Handy in Gang zu kriegen, während er spontan eine ausladende Runde über die Haltestelle dreht, aber das geht nicht. Der Bildschirm ist eingefroren und rührt sich nicht. Mein Handy will ich nicht rausholen, da ist der Fahrschein drin und der Akku fast leer: »Dein Handy geht nich. Musst du mal morgen in Ruhe gucken« Er: »Ja okay, mache ich. Das nächste Mal musst du einfach sagen, dass ich mein Maul halten soll. Ich labere immer zu viel.« [Die Bahn fährt ein.] Er: »Dir noch einen schönen Abend.« (steigt in seine Bahn). Ich: »Bis zum nächsten Mal..«
Ich nehm dann doch eine Straßenbahn früher, weil auf der irgendetwas von „Leutzsch“ steht und ich mir denke „Kann nicht so falsch sein“. Die bringt mich dann an den Straßenbahnhof Leutzsch, der allerdings über einen Kilometer vom Bahnhof entfernt liegt. Egal, beim Laufen vergeht Zeit. Ich war in der Straßenbahn der Letzte, ich bin auf dem Bahnsteig der letzte. Selbst als meine eigentliche Straßenbahn durch ist, bleibe ich der Letzte auf dem Bahnsteig. Man macht sich immer zu viele Gedanken.
I’m running towards nothing Again and again and again and again…
Robert Smith
Ich setze die Maske auf, der Vorschrift wegen und steige in den leeren Wagon. Der Zug fährt los, ich komme pünktlich in Weißenfels an. Livekonzerte. Muss man sich auch erstmal wieder dran gewöhnen.
P.S. Ein Mitbringsel: P.P.S. Auf dem Rang sitzen ist öde … und zu weit weg. P.P.P.S. Der Ton kommt aber gut rüber, finde ich.
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