Samstag, ich stehe Beizeiten auf, schließlich habe ich eine Familie vor einem Bahnstreik zu retten, der dann doch nicht stattfindet. Autobahn, freiwilliges Tempolimit (120 km/h), angenehmes Rollenlassen mit Tempomat, der große Opel bleibt bei 5,9l/100km.
Ich passiere Magdeburg, später dann Braunschweig und Salzgitter. Wegmarken aus der Vergangenheit. Verrückte Zeiten. Ich bin müde.
Dann Bremen an der Weser. Etwas später die Abfahrten „Achim Nord“ und „Achim Süd“. Muss dabei an verfeindete Zwillingsbrüder denken, die sich von der südlichen und nördlichen Feste aus mit Katapulten beschießen. Keine Ahnung wieso. Dann runter von der Autobahn, das abschließende Geklingel über Ortschaften und Einöden mit gelben Namen auf grünen Schildern. In einem wirbt die christliche Gemeinde mit ihrer beliebten Wunschdisko um Jugendliche. Unten auf der Tafel steht „Die Ewigkeit ist mein Zuhause“. Ich denke: „Painkiller“ von Judas Priest und „Zeitgeist“ von Black Sabbath wären ob der Texte gute Wünsche.
Vor der Fähre gibt es einen großen Parkplatz. Also es gibt einen großen Parkplatz, dann noch einen und dann eine unbefestigte Ausweichfläche, falls alles andere schon voll ist. Dort halte ich und laufe die knapp 2km zum Fährkartenautomaten. Laut Fahrplan habe ich Zeit. Die nächste Fähre kommt erst in 50 Minuten. Dann ruft ein Mann. Alle ohne Koffer werden auf einen kleinen Kutter gelotst, der sofort losfährt. Ich bekomme einen ersten Eindruck vom Querschnitt der Norderney-Besucher. Damenreisegruppen, Rentner aus den 90ern und distinguierte Pärchen, wo der Herr sich gerne einen knallgelben Pullover um den Hals knotet (Knotung: Windsor) und die Dame mit Schmuck und Schminke nicht geizt. Wenig Familien mit Kindern. So wird es auch auf der Insel bleiben. Eine Dreiviertelstunde später: Land in Sicht.
Am Ufer werde ich von meiner Familie abgeholt. Es mag auch an der Müdigkeit liegen, aber ich bin schon ein wenig gerührt. Am Ufer entlang geht es zum Mittagessen (Pizza Funghi und Pils) und ich bekomme einen ersten Eindruck von der Nordseeinsel. Gute kalte Seeluft an geharktem, gepflastertem Ufer. „Bonner Republik“ ist das Erste, was ich denke, als ich die Uferpromenade mit ihren unmodern gewordenen Lampen und die angrenzenden Hotels sehe. Auf dem Sturmflutwall läuft es sich angenehm mit Blick auf die See. Es sind nicht viele Leute unterwegs. An der Rezeption meines Hotels empfängt mich ein Holländer. Die Aufenthaltsbereiche versprühen ältlich-mondänen Charme, die Leute hier sind nett. Das Hotelzimmer ist ein Hotelzimmer. Ich richte mich ein. Dann schlafe ich ein. Den späteren Nachmittag verbringen wir auf einer Decke am Strand, was schön war.
Die Kinder haben viel zu erzählen. Ich lerne: Die Strandbreite variiert ziemlich schnell. Nach dem Abendessen trenne ich mich wieder von meiner Familie. Auf dem Weg zum Hotel überlege ich, was mir hier eigentlich schon die ganze Zeit so komisch vorkommt. Dann fällt es mir ein. Es ist absolut still auf Norderney. Weil die Leute still sind, aber vor allem, weil hier keine Autos fahren. Das ist so ungewohnt, dass ich das erstmal als unangenehm wahrnehme, was ja Quatsch ist. Keine laute Musik, keine lauten Gespräche und keine lauten Autos führen dazu, dass man sich unbehaglich fühlt. Darüber denke ich nach, bis ich im Hotelzimmer ankomme, wo ich alsbald in einen tiefen matten Schlaf falle.
Zum Frühstück bekomme ich zur Wiedergutmachung eines kleinen Fauxpas des Kellners einen Fensterplatz mit „phänomenalem“ Blick auf den Hochwasserschutzdeich und ein Spiegelei, ohne darum gebeten zu haben. Am Vormittag fahren wir mit dem Bus bis zur Endstation „Oase“, in der Mitte des Nordufers. Dort gibt es einen mehrere hundert Meter breiten Strand, als wir dort ankommen. Wir verbringen Zeit auf einer Sandbank, die Sonne scheint. Später laufen wir durch das Naturschutzgebiet zum Leuchturm im Zentrum der Insel. Alles voller wilder Hasen hier, zum Teil schon tot und ausgeweidet, aber auch Fasane und seltene Vögel sehen wir auf dem Weg. Ich steige auf den Leuchtturm. Meine Familie war schon. Oben hat man einen schönen Rundumblick. Während ich überlege, womit ich meine CO2 für die Reise diesmal kompensiere, starten und landen unterhalb des Turmes einmotorige Privatflugzeuge. Meine Familie geht zum Mittagessen. Mir gelingt es nicht, einen Imbiss zu finden, also mache ich hungrig Mittagsschlaf. Den Nachmittag verbummelt meine Familie im Kurbetrieb, weswegen es nur noch für eine kleine Runde durch den Ort reicht, bevor wir in einer etwas skurrilen Fischgaststätte landen. Die Bedienung ist mit schrullig ganz gut beschrieben, jeder Gästetisch (vermutlich auch unsrer) erinnert an eine Loriot-Szene. Das Essen ist aber ganz gut.
Montag müssen die Kinder nochmal in die Betreuung, was den Eltern die Gelegenheit gibt, einen größeren 12km-Spaziergang zu unternehmen. Wir laufen am Strand bis zur „Weißen Düne“. Dort steht ein Holzgerüst und ich frage, was das wohl sei. Die Grundpfähle eines nicht mehr vorhandenen Gebäudes, lerne ich. Die waren früher vollständig im Sand. Nun stehen sie auf dem Strand und ragen 5-6 Meter in die Höhe. Zurück gehen wir durch das zerklüftete Naturschutzgebiet im Innenland und führen schöne Gespräche. Der Nachmittag gehört dann wieder den Kindern. Wir gehen zu einem Spielplatz, den wir am Vormittag entdeckt haben. Ich spiele mit den Kindern, die Frau unterhält sich mit Leuten, die sie kennengelernt hat. Der Wind frischt auf, weswegen wir in einen Strandkorb wechseln und die Kinder den Lenkdrachen fliegen lassen. Dann wartet im „Surfcafe“ das Kaminzimmer, wo wir reserviert haben. Es gibt nochmal sehr schönes Essen. In 100 Jahren wird das hier sicher alles weg sein, muss ich denken.
Am nächsten Morgen hieve ich drei große Koffer in einen Bus, dann in eine Fähre, dann von der Fähre runter, dann in unser Auto. Es geht heimwärts und eine schöne kleine Auszeit geht zu Ende. Die Ostsee bleibt mir aber näher.