Die ideale Anzahl von Sinnesreizen findet der Mensch nur im Wald. Nicht zu viele, nicht zu wenige. Die ideale Anzahl von pflegbaren Sozialkontakten liegt zwischen 2 und 150, der Durchschnitt liegt um 100. Es braucht ein kleines Dorf im Wald, um ein Kind zu erziehen.
Nun waren wir aber im Herbsturlaub in Hamburg gelandet und wie man ziemlich schnell feststellen wird, ist das kein kleines Dorf im Wald. Dann läuft man dort so rum, mit seinen Kindern, die noch nie in so einer großen Stadt waren und muss ihnen erklären, was ein Obdachloser ist, oder warum der betrunkene Mann in der U-Bahn so laut nach Geld gefragt hat und warum wir nicht einfach jedem der Bettler, den wir fortan treffen, welches geben. Dann steht man, auf seine konsumierende Familie wartend, vor der Filiale einer Fast-Fashion-Modekette unweit der Innenalster und in diesen zehn Minuten läuft ein kompletter gesellschaftlicher Abriss vorbei.
Ich stehe keine 10 Meter von einem entfernt, der auf eine kleine Pappkiste mit Einwurfschlitz geschrieben hat „1 kleine gute Tat – 1€ / 1 große gute Tat – 10€“. Alle gehen vorbei. Die japanischen Touristen, die mit ihren Fotoapparaten gerade einen Stop-Motion-Film von Hamburg drehen, die 3er-Gruppe Geschäftsmänner mit den kunstvoll geflochtenen Markenschals, die sich allen Ernstes auf Englisch Business-Buzzword-Sätze um die Ohren hauen, die ältere hanseatische Geschäftsfrau (viel Goldschmuck, feiner Mantel, Chanel-Handtasche) mit einem Flyer der aktuellen Banksy-Ausstellung in der Hand, die deutsche Durchschnittsfamilie (Mutter, Vater, Junge, Mädchen), die sich streitet, wie dieser Tag weitergehen soll. Alle, die hier vorbeigehen, machen gerade irgendwas und halten es, jetzt im Augenblick, für das, was zu tun ist. Wo ist da der Sinn, fragt man sich und was geht in denen so vor?
Ralph Caspers hat in einem Vortrag auf der diesjährigen Re:Publica sinngemäß gesagt: »Das eigene Leben ist sinnlos, bis man ihm selbst einen Sinn gibt.«. Fand ich gut, aber trotzdem.
Hamburg hat in etwa 1,9 Millionen Bewohner, das sind fast so viele, wie ganz Thüringen. In Berlin leben weit mehr Menschen, als in meinem Bundesland Sachsen-Anhalt, selbst dann, wenn es Halle und Magdeburg doppelt gäbe. Nordrhein-Westfalen hat mehr Einwohner, als ganz Ostdeutschland, selbst wenn man da Berlin insgesamt mit reinrechnet und das alles zusammen ergibt noch nicht mal ansatzweise die Hälfte der Einwohnerzahl Deutschlands. Deutschland insgesamt wiederum, stellt aktuell gerade mal ein knappes Prozent der Weltbevölkerung.
Ferdinand von Schirach schrieb in seiner Kurzgeschichtensammlung „Nachmittage“, dass Goethe einst schrieb: »Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Zwecke vermag er einzusehen … sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will, noch was er soll.«
Wenn das stimmt (und es klingt ja schon nachvollziehbar), hat man diesen Konflikt als Hamburger doch ständig um sich, denke ich mir, während ich hier warte.
Was man braucht, worüber man sich freuen kann, was man im Auge haben kann sind: die eigene Familie, ein oder wenn man Glück hat auch zwei handvoll Freunde, denen nicht komplett egal ist, wie es dir gerade geht, danach wird es schon dünn und neblig und trotzdem weiß man irgendwie, dass man immer auch Teil von etwas Größerem ist. Ob das der Typ genauso sieht, der vorhin bei laufendem Motor seines Maseratis im Halteverbot darauf wartete, dass seine Freundin diesen obszön großen Apple-Store wieder verlässt, weiß ich allerdings nicht.
Später in dieser Woche stehen wir auf der Aussichtsplattform der Elbphilharmonie und beobachten gegenüber in der Speicherstadt einen Geschäftsführer(?), der in der obersten Etage des Gebäudes ein riesiges Eckbüro mit riesigem Eckbalkon hat. Er telefoniert gestenreich und geht immer wieder raus auf seinen Balkon und rein in sein Büro. Man könnte meinen, er tut es, um sich und seinen Beobachtern zu beweisen, wie weit er es gebracht hat. Ich würde ihm gerne Kekse zuwerfen, so sehr erinnert das an einen Hamster im Käfig. Es ist kurz nach 17:30 Uhr und in jedem der Büros, in die man blicken kann, ist es geschäftig.
In keinem davon sieht es so aus, als wäre hier bald Feierabend.