Seidenblumenstadt Sebnitz – da sollte man besser nicht nach einer Abkürzung suchen. An unserem ersten Abend hier laufen wir in die Innenstadt, weil wir hungrig sind. 

Eindrücke:
Wir gehen die Kirchgasse lang, Berg hoch, Berg wieder runter. Eine Kirche finden wir aber nicht gleich, sondern nur den Friedhof. Gegenüber und rundherum stehen viele Häuser leer, manche davon alt, manche Fachwerk-, einige sogar Umgebindehäuser. In einigen Fenstern dort steht noch die Weihnachtsdeko… von 1995 oder so. Jedenfalls von irgendwann gleich nach dem Ende der Dekoindustrie hier im Ort. (Wer diese gruseligen DDR-Weihnachtsmannmasken noch kennt – diese und deren stilistische Verwandtschaft bitte als Fensterdeko vorstellen.) Es gibt aber auch auffällig schöne, interessante Häuser. Das Goethe-Gymnasium z.B. ist ziemlich groß und weckt (mit zugekniffenen Augen) leichte Hogwarts-Gefühle. Im Zentrum selbst ist wenig Leben, sogar keins, wenn man sich die Gruppe Jugendliche Ecke Markt wegdenkt. 

Als ich mit meinen Töchtern auf dem Marktplatz eine alte Postmeilensäule zu entschlüsseln versuche, fährt ein Auto vorbei, welches ausstrahlt: „Ich fresse täglich drei kleine Autos und deine Kinder gleich noch mit dazu“. Auf der Heckscheibe der Fahrerkabine klebt: „Wascht ihr euch die Hände – wir waschen euer Gehirn“ kombiniert mit den Logos von ARD und ZDF. 
Der Vorname „Greta“ ist hier scheinbar auch nicht sonderlich beliebt, wie wir in den kommenden Tagen auffällig oft auf Autorückseiten lesen werden. Was wir noch zu lesen bekommen sind Durchhalteparolen, Kalendersprüche und Aufmunderungen wie: „Du hast nur das Allerbeste vom Allerbesten verdient.“ und „Du bist nicht so toll wie die anderen – Du bist so toll wie du“. Dazu der Hashtag #SebnitzerKomplimente. Das liest man aber nicht auf den Autos, sondern in den Fensterscheiben leer stehender Geschäfte im Zentrum. Als Fremder denkt man sich da zwei Sachen: „Gruselig, dass so eine Aktion nötig ist.“ und „Schön, dass es Leute gibt, die die Laune in der Großen Kreisstadt (10.000 Einwohner) verbessern wollen.“ 
Unser Pensionswirt hatte uns wenig Hoffnung gemacht, dass wir an diesem Sonntag noch eine offene Gaststätte in Sebnitz finden werden, seine wäre ja auch zu bzw. für Pensionsgäste schon offen, aber da wir aktuell die einzigen Gäste sind eigentlich auch nicht. Google sagt was anderes und führt uns in die „Kirchklause“, wo ein Holzofen gemütlich warm bollert und uns die Betreiber gemütlich warm und freundlich empfangen. So einfach kann es sein. Wer interessiert sich schon für leere Häuser und alberne Schilder…

Ich fange an zu googeln. Im Jahr 1997 stirbt der sechsjährige Joseph Kantelberg-Abdullah im Sebnitzer Freibad. Im Jahr 2000 wird dann ein Kriminalgutachten von Zeugen als glaubwürdig eingestuft, wonach er von rassistischen deutschen Jugendlichen ertränkt worden sei und hunderte Gäste dabei nicht eingeschritten wären. Das darauf folgende, internationale  Medienecho hat die Stadt schwer beschäftigt bis traumatisiert, das kann man schon allein aus dem Wikipedia-Eintrag der Stadt herauslesen. Gegen drei Verdächtige erlässt die Oberstaatsanwaltschaft Dresden Haftbefehl, als eigentliche Todesursache wird jedoch ein Herzinfarkt mit anschließendem Ertrinken, ausgelöst durch einen von der Mutter zunächst verschwiegenen Herzfehler des Jungen festgestellt. Eine Kombination aus Medien-Skandal, Justiz-Skandal und Politik-Skandal also, der sich hier eingebrannt hat. Familie Abdulla, einst aus dem Taunus hierher gezogen, ist am Ende finanziell und psychisch ruiniert. Der Aufkauf der Apotheke und eines anderen Wohnhauses ist Thema im Stadtrat, schließlich würde man es begrüßen, wenn die Familie Sebnitz wieder verlässt. Es kommt nicht zum Kauf der Häuser aus öffentlichen Mitteln, die Familie verlässt Sebnitz trotzdem. Auch die drei letztlich zu Unrecht Festgenommenen gehen nicht ohne Schaden aus dem Vorgang. Welche Gründe oder Erfahrungen die Mutter dazu bewegt haben, bis zum Schluss geradezu verbohrt davon überzeugt zu sein, dass ihr Sohn nicht eines natürlichen Todes starb, bleibt ungereimt und spekulativ.
Der Stadtrat indes entwickelt kurz vor der Aufdeckung der wahren Todesursache einen 66-Punkte-Plan mit dem Titel „Wie weiter in Sebnitz?“, ein Millionenprogramm. 
Forderungen darin: Präventivprogramme für Jugendliche, eine Bahnstrecke nach Bad Schandau, Einladungen für Chefredakteure zum Dialog mit Sebnitzer Jugendlichen, aber z.B. auch eine Wetterstation für 20.000,- DM.  Es war mir leider nicht möglich, den vollständigen Katalog im Netz zu finden. 2019 holt die AfD aus dem Stand 21% bei der Gemeinderatswahl und wird zweitstärkste Kraft. 

Wir haben in unserer Urlaubswoche die Kirnitzschklamm für uns als Familie alleine, genauso die Festung Königstein und das nahe Felsenlabyrinth (Highlight der Kinder). Im direkt angrenzenden Tschechien bei der Räuberburg Schauenstein sieht es nicht anders aus. Lediglich an der Bastei treffen wir auf deutsche Rentner, die hier nichts besseres zu tun haben, als die Baukosten der neuen Aussichtsplattform in Leopard II-Panzer umzurechnen. 
Dennoch bleibt das Elbsandsteingebirge mein Lieblingsmittelgebirge in Ostsachsen. Lediglich die „völlig intakte Natur“, mit der Sebnitz auf seiner Homepage wirbt, kann man so nicht mehr uneingeschränkt bestätigen. Dafür liegen zu viele Bäume auf Kipp, wenn sie nicht schon im letzten Sommer abgebrannt sind. Von der Festung Königstein aus fällt uns auf, dass viele Häuser beinahe ganztägig im Schatten der Berge liegen.